„Systemisch-konstruktivistisch-lösungsorientiert“ – Bitte, wie?!?
Der Lern- und Prüfungsstress ist vorbei! In den diesen Tagen werden die Prüfungs-Resultate per Post zugestellt: Spätestens jetzt, wenn die Absolventen ihre Prüfungsresulate in den Händen halten, dürfte fröhlichen Feiertagen nichts mehr im Wege stehen.
Die offizielle Diplom-Feier findet im Februar 2020 statt. Das Wort „systemisch-konstruktivistisch-lösungsorientiert“ dürfte dann erneut die Runde machen. Es zog sich wie ein roter Faden durch die Prüfungen.
Was in der mündlichen Prüfung zählt
Niemand weiss, weshalb ausgerechnet jene Fragetechnik von Steve de Shazar in diesem Jahr immer wieder zitiert wurde. Doch die Episode eignet sich, um zu zeigen, worauf es in der mündlichen Prüfung ankommt.
Bildlegende: Alle Fotos sind von bisherigen Diplomfeiern
Gelerntes in die Praxis umsetzen und professionell anwenden
Die Prüfungskandidaten müssen vorab eine schriftliche Arbeit einreichen. In der mündlichen Prüfung werden sie nach der psychologischen Theorie befragt, auf die sie sich beziehen. „Systemisch-konstruktivistisch-lösungsorientiert“ war eine häufige und regelmässige Antwort. Doch allein die Schlagworte zu nennen, genügt nicht. Die Prüfer wollen es genau wissen: Was versteht der Kandidat unter „systemisch-konstruktivistisch-lösungsorientiert“? Und was bedeutet das Wort in Bezug auf seine Arbeit? „Augenhöhe“ war ein genauso geflügeltes Wort an der 10. Berufsprüfung zum betrieblichen Mentor FA. Das Wort beinhaltet mehr als positive Zuwendung, Empathie und Echtheit.
Berufsprüfung für Beratungspersonen – Wissen in eigenen Worten erklären können
Um die Bedeutung des Wortes zu erfassen, muss man sich das typische Setting in einem Coaching verdeutlichen: Ein Coachee hat im Normalfall eine Fragestellung oder ein Problem und wendet sich deshalb an den Coach. Der Auftrag im Coaching ist, das Problem zu lösen, eine Hürde zu nehmen oder eine Aufgabe zu meistern.
Der Coach versucht nun, tragfähige Lösungsansätze aufzuspüren und fragt den Coachee nach positiven Erfahrungen.
Dieser systemisch-konstruktivistisch-lösungsorientierte Ansatz steht im Gegensatz zu unserer gesellschaftlich verankerten Vorgehensweise: Meist versuchen wir, die Ursachen eines Problems zu verstehen, um dann die Lösung zu finden. Doch systemisch-konstruktivistisch-lösungsorientiert zu denken, bedeutet, nicht in der Vergangenheit zu graben, sondern nach vorne zu blicken und sich auf Lösungen zu fokussieren. Der systemisch-konstruktivistisch-lösungsorientierte Denker sucht nach Ausnahmesituationen, in denen der Coachee erfolgreich war. Anhand der Ausnahme spinnen er und der Coachee den Faden weiter.
In den Worten der Prüfungskandidaten heisst das dann:
- „Was nicht kaputt ist, muss nicht repariert werden.“
- „Das, was funktioniert, sollte man häufiger tun.“
- „Kleine Schritte können zu grossen Veränderungen führen.“
- „Kein Problem besteht ohne Unterlass. Es gibt immer Ausnahmen, die genutzt werden können.“
Etablierter Import von den österreichischen Nachbarn
Der systemisch-konstruktivistisch-lösungsorientierte Ansatz von Steve de Shazar (1940-2005) wurde häufig beschrieben. Im Kern geht es darum, Lösungen zu erfinden, anstatt Probleme zu betrachten. Verschiedene psychologische Schulen haben den Ansatz für Therapie, Beratung und Coaching übernommen und integriert.
Steve de Shazar hat sich übrigens an zwei Österreichern orientiert. Ludwig Wittgenstein (1889-1951) hat den systemisch-konstruktivistisch-lösungsorientierten Gedanken in seiner Philosophie vorgedacht. Kommunikationswissenschaftler, Philosoph und Therapeut Paul Watzlawick (1921-2007) hat ihn in seinem 1974 veröffentlichten Buch „Lösungen: Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels“ ausgeführt.
Auch Alfred Adler dachte systemisch-konstruktivistisch-lösungsorientiert
Der systemisch-konstruktivistisch-lösungsorientierte Gedanke ist ein Kind seiner Zeit, weshalb wir ihn ebenso bei Alfred Adler finden, wenn auch in anderen Worten. Das Menschenbild von Alfred Adler (1870-1937) war vom Philosophen und Kant-Forscher Hans Vaihinger (1852-1933) beeinflusst. Unter einem Pseudonym hatte dieser ein Buch mit dem Titel „Die Philosophie des Als-Ob“ veröffentlicht.
Fiktionen seien Gedankengebilde, schreibt Vaihinger darin, nichts als erdachte, widersprüchliche Gebilde. Sie seien jedoch die Werkzeuge, die das Denken erst ermöglichten.
Adler entwickelte daraus die „Als ob“-Technik. Er regte seine Klienten an, so zu handeln, als ob sie ihre Schwierigkeiten bereits überwunden hätten. Die meistgestellte Frage Alfred Adlers hiess demnach: „Was wäre anders, wenn Sie dieses Symptom bzw. Problem nicht hätten?“ Die Verwandtschaft mit der „Wunderfrage“ von Steve de Shazar ist unübersehbar. Alfred Adler war 1911-1937 auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Haben Sie gewusst, das Watzlawick durch Adlers Werke inspiriert wurde?
Wie die Individualpsychologie durch die Praxis trägt
Tools wie die systemisch-konstruktivistisch-lösungsorientierte Fragetechnik sind wichtig. Doch bei Coachingplus legen wir Wert darauf, dass die Teilnehmer ein fundiertes Wissen über die Individualpsychologie verinnerlichen. Dies gibt ihnen Sicherheit und Stabilität in den eigenen Beratungen. Wie die Individualpsychologie im Beratungsgespräch angewandt werden kann, lesen Sie im Artikel „150 Jahre Individualpsychologie – ein guter Grund, Alfred Adlers Erkenntnisse zu feiern“.